Aus dem geografischen Abseits ins Zentrum der Aufmerksamkeit - Mehr als Eis und Schnee
Snowmobile ride in Frobisher Bay. Photo: Gerd Braune
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch von Gerd Braune „Die Arktis – Porträt einer Weltregion“, das im März 2016 im Christoph Links Verlag erschienen ist. Für einen Kommentar zu seinem Buch, siehe hier.
Ein kalter Wind fegt über das Plateau und bewegt die weißen Köpfe des Arktischen Wollgrases, das selbst auf diesem kargen, sandigen Boden zwischen Steinen gedeiht. Wie Schneebälle sehen die Blüten aus, ein kleiner leuchtender, grün-weißer Teppich. Für die Inuit, die indigene Bevölkerung der kanadischen Arktis, war diese Pflanze einst lebenswichtig, denn aus der Blüte drehten sie den Docht für ihre Qulliq, die aus Speckstein gefertigten und mit Robben- oder Walfett gefüllten Lampen. Sie waren ihre Wärme- und Lichtquellen in Zelten und Iglus.
Wir sind im Norden der Baffin-Insel im kanadischen Arktisterritorium Nunavut. Das heißt „Unser Land“ in Inuktitut, der Sprache der Inuit im Osten der kanadischen Arktis. Eine eisbedeckte Meeresbucht, der Strathcona-Sund, ragt in das Land hinein und unterbricht die rotbraune Steinwüste. Dahinter erhebt sich eine kahle, baumlose Bergkette. Und über allem wölbt sich der blaue, fast wolkenlose Himmel. Hier an Strathcona-Sund und Lancaster-Sund beginnt die berühmte Nordwest-Passage, der legendäre Seeweg durch die arktische Inselwelt, den Forscher und Seefahrer aus Europa jahrhundertelang suchten.
Mit der Arktis werden Eisberge, der Nordpol und der eisbedeckte Arktische Ozean assoziiert. Aber die Arktis ist nicht nur der Nordpol. Sie ist Land und Wasser. Hier im Norden Kanadas ist die Arktis im kurzen Sommer ein Land wie ein Steinbruch, Gestein und Geröll, von Bachläufen mit Schmelzwasser durchzogen. Keine Bäume und Büsche, allenfalls Flechten und Moose und ein paar Blumen können hier gedeihen. Nördlich des Polarkreises geht die Sonne im Sommer für einige Tage oder Wochen nicht unter. Die Niederschläge sind geringer als in vielen südlicheren Regionen, weite Bereiche der Arktis gelten als polare Wüste. Im langen arktischen Winter, in dem mancherorts wochenlang Dunkelheit herrscht, ist das Land von Eis und Schnee bedeckt, mit Temperaturen, die oft unter minus 40 Grad Celsius liegen. Und der Arktische Ozean ist eine riesige, 14 Millionen Quadratkilometer große Eisfläche.
Wer die Weite der Arktis erlebt, wer Siedlungen und Städte ein paar Kilometer hinter sich lässt und vor sich nur Steine, Seen und Bäche, Eis und Schnee liegen sieht, der fragt sich unweigerlich: Hat jemals ein Mensch seinen Fuß auf dieses Fleckchen Erde gesetzt? Im Oktober 1996 war ich erstmals in der kanadischen Arktis. Nach Gesprächen in Iqaluit ließ ich mich von einem Taxifahrer an den Rand des Sylvia Grinnell Territorial Parks bringen und bat ihn, mich in einer Stunde wieder abzuholen. Ich stieg die Anhöhe hinauf und sah das scheinbar unberührte Land vor mir. Auf dem Sylvia-Grinnell-Fluss hatte sich schon Eis gebildet, das in der Sonne funkelte. Die Stille, die nur vom Wind unterbrochen wurde, faszinierte mich. Seitdem bin ich mehrmals an diesen Ort zurückgekehrt. Die Faszination ist geblieben.
Der Run auf die Arktis
In den zwei Jahrzehnten seit meinem ersten Besuch hat sich unser Blick auf die Arktis erheblich verändert. Der Nordpolarraum findet unser wissenschaftliches Interesse, denn die Arktis spielt für das Weltklima und dessen Wandel, die Strömungen der Ozeane und die Zukunft der Menschheit eine wichtige Rolle. Vor allem aber verändern der unstillbare Hunger der entwickelten Länder nach Rohstoffen und der Drang der Nationalstaaten, sich Hoheitsrechte und damit den Griff nach Öl und Gas, Edelmetallen und Industrierohstoffen zu sichern, die unter den Landflächen und dem Arktischen Ozean vermutet werden, unsere Wahrnehmung der Arktis. Festmachen lässt sich diese Wende an einem Ereignis und einem Datum: dem Verankern einer russischen Flagge auf dem Meeresboden direkt am geografischen Nordpol am 2. August 2007.
Rund zwei Wochen zuvor hatte der russische Forschungseisbrecher „Akademik Fedorov“ den Hafen von St. Petersburg verlassen. Die Expedition war Teil des Beitrags Russlands zum „Internationalen Polarjahr“ 2007/2008. Nach einem Zwischenstopp in Murmansk ging es weiter nach Norden. Der Eisbrecher „Russia“ bahnte den Weg. Am Morgen des 2. August begannen zwei bemannte U-Boote, „MIR 1“ und „MIR 2“, den Tauchgang zum Meeresboden. Russischen Angaben zufolge erreichten drei Stunden später erstmals Menschen den Meeresboden am Nordpol in 4261 Metern Tiefe und setzten eine aus Titan gefertigte rostbeständige russische Flagge ab.
Russland hatte bereits 2002 territoriale Ansprüche bei der Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels angemeldet, einer durch die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen geschaffenen Institution. Diese waren aber als nicht ausreichend fundiert zurückgewiesen worden. Nun sollte mit der Flaggenaktion und dem Sammeln von Bodenproben dieser Anspruch untermauert werden. Im Jahr 2000 hatte der USGS (United States Geographical Survey), der geologische Dienst der US-Regierung, Schätzungen über gewaltige unentdeckte Öl- und Gasreserven im Arktisraum veröffentlicht, die 2008 aktualisiert wurden. Da die UN-Seerechtskonvention den Arktisanrainern das Recht gibt, den Meeresboden über die 200-Seemeilen-Zone hinaus wirtschaftlich zu nutzen, wenn dieser die „natürliche Verlängerung“ ihres Kontinentalschelfs darstellt, bemühen sich die Nordpolarstaaten, genau dieses nachzuweisen. Wegen des Lomonossow-Rückens, eines Unterwassergebirges, das sich von Sibirien nach Grönland und Nordkanada erstreckt, können sich Russland, Kanada und Dänemark-Grönland berechtigte Hoffnungen machen, viele hunderttausend Quadratkilometer Meeresboden erfolgreich für sich zu reklamieren.
Darüber, welche Bedeutung die Flaggenaktion und die Probenentnahme über das Symbolische hinaus hatten, wurde sofort heftig gestritten. Die Russen sahen sich einen Schritt näher an dem Ziel, sich den potenziell rohstoffreichen Meeresboden im Eismeer anzueignen. Kanadas damaliger Außenminister Peter MacKay tat das Pflanzen der russischen Flagge dagegen als „Show Russlands“ ab. Man sei ja schließlich nicht mehr im 15. Jahrhundert, als es genügt habe, irgendwo seine Fahne aufzustellen und damit Territorialansprüche zu erheben.
Aber mit dieser Aktion hatten die Russen das eröffnet, was in den Medien vielfach als „Wettlauf zum Nordpol“ bezeichnet wird. Bei diesem handelt es sich um ein griffiges, aber verkürztes und irreführendes Schlagwort. Auch das Eismeer ist kein rechtsfreier Raum, keineswegs gilt das Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Souveränitäts- und Nutzungsrechte werden zunächst in einem wissenschaftlichen Verfahren geklärt, dann folgen, falls sich Ansprüche überlappen, politische Verhandlungen. Das Eismeer unterliegt den Regeln der UN-Seerechtskonvention, es gibt Verträge zwischen den acht Arktisstaaten, auch im Rahmen des von ihnen gebildeten Arktischen Rats, sowie Vereinbarungen zwischen den fünf Küstenstaaten des Eismeers. Dies gilt sowohl für die wirtschaftliche Nutzung des Meeresbodens als auch für die Schifffahrt. Nichtsdestotrotz war das Interesse an der Arktis mit Russlands Flaggen-Coup geweckt. Nun war jeder Schritt eines Arktisstaats, jede wissenschaftliche Expedition und jedes Militärmanöver ein „Griff nach dem Nordpol“. Die Arktis war aus der Randlage ins Zentrum politischer und wirtschaftlicher Erwägungen gerückt. Wem gehört die Arktis? Wer hat Anspruch auf den Meeresboden? Souveränität in der Arktis, Souveränität über die Arktis wurden in Ost und West zu politischen Kampfbegriffen.
Das Land unter dem Großen Bären
Das griechische Wort „Arktos“ (Bär) ist der Ursprung für die Bezeichnung dieser Region: Die Arktis ist das Land unter dem Sternbild des Großen Bären, dessen sieben hellste Sterne den Großen Wagen bilden. Sie ist das Gebiet nördlich des Polarkreises, 66° 33ʼ nördlicher Breite, das Gebiet, in dem mindestens an einem Tag im Jahr die Sonne nicht aufgeht und an mindestens einem Tag nicht untergeht. Sie ist das Land der Mitternachtssonne.
Aber diese Grenzziehung entspricht weder klimatischen Kriterien noch den Besonderheiten der Vegetation. Daher wird zur Abgrenzung von den südlicheren subarktischen Regionen oft die Baumgrenze herangezogen. Nach dieser Definition ist die Arktis die Region, in der es keine Wälder gibt, sondern allenfalls Büsche wachsen. Bäume und Wälder versperrten nur die Sicht in die Ferne, sagte mir einmal scherzend ein Inuk, als ich darüber klagte, dass mir im Norden die grünen Wälder fehlten. Oder man nimmt als Kriterium die Temperatur: Dann wird als Arktis das Gebiet bezeichnet, in dem selbst im wärmsten Monat die Durchschnittstemperatur kälter als 10 Grad ist. Diese Juli-Isotherme von 10 Grad grenzt die Arktis von der Subarktis ab. In einigen Sektoren des Nordpolarraums – etwa in Kanada, Grönland und der Tschuktschen-Region – reicht sie über den Polarkreis hinaus nach Süden. In Skandinavien und weiten Teilen Russlands und Alaskas liegt sie dagegen nördlich des Polarkreises. Und sie zieht sich mitten durch Island, dessen Klima vom Golfstrom und der arktischen Grönlandströmung beeinflusst und als subarktisch bezeichnet wird.
Acht Länder können sich als Arktisstaaten bezeichnen, weil sie Küstenstaaten des Arktischen Ozeans sind, ein Teil ihres Territoriums den Polarkreis berührt oder darüber hinausreicht oder Klima oder Vegetation „arktisch“ sind: die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem Bundesstaat Alaska, Kanada mit Yukon, den Nordwest-Territorien und Nunavut, Dänemark mit Grönland und den Färöer-Inseln, Island, Schweden, Finnland, Norwegen mit der Inselgruppe Spitzbergen und Russland. Diese Staaten sind die Akteure, wenn es um die Gestaltung des Arktisraums geht. Sie bilden den Arktischen Rat, der sich in den vergangenen 20 Jahren zum wichtigsten Diskussions- und Entscheidungsforum in arktischen Angelegenheiten entwickelt hat. Aber die Nationalstaaten sind nicht die einzigen Akteure. Vor ihrer Herausbildung in den heutigen Grenzen und den daraus folgenden Eifersüchteleien und Ansprüchen lebten hier längst die indigenen Völker der Arktis. Sie erheben heute lautstark ihre Stimme, wenn es um die Nutzung der Arktis geht…
Gerd Braune ist freiberuflicher Journalist in der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Er berichtet seit fast 20 Jahren für mehrere Tageszeitungen in Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz über Kanada. Sein besonderes Interesse gilt der Arktis mit ihren politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Entwicklungen.